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Entschleunigung, Gemeinschaft, Freiheit. Die Gefühle die Menschen mit dem Camino verbinden, sind mindestens genauso vielfältig wie die Gründe den Weg zu gehen. Aber in einem sind sich wohl alle Pilger einig: Alle Sinne sind geschärfter als Zuhause. Und Grund hierfür liegt auf der Hand: In unserer gewohnten Umgebung sind wir permanent abgelenkt, online und dauerhaft zu erreichen. Wir werden berieselt von unserem Alltag und richten unsere Aufmerksamkeit öfter auf unsere Smartphones als auf unser Gegenüber, geschweige denn auf uns selbst.
Und dann ist da plötzlich diese komplette Umstellung. Auf dem Jakobsweg will niemand etwas von dir, es wird nichts von dir erwartet.. du bist plötzlich frei. Getrieben wirst du nur von deinen Grundbedürfnissen: Laufen, essen, ausruhen, schlafen, vielleicht Wäsche waschen..am nächsten Tag das gleiche, am übernächsten und überübernächsten. Diese einfache Grundstruktur lässt dich offener und freier werden für „die kleinen Dinge des Lebens“.. oder sind diese kleinen Dinge vielleicht doch in Wahrheit die großen?
Die Sinneseindrücke sind neben anderen Faktoren abhängig vom gewählten Weg. Ich war auf dem Camino del Norte bis Gijon und die letzten 113 km auf Camino France unterwegs. Ein Jahr später bestritt ich noch den Caminho Portugues von Porto bis Santiago de Compostela.
Lass mich dich mitnehmen auf meine persönliche Sinnesreise auf dem Jakobsweg..
Der wundervolle Geruch nach Bakterienpups
Der Camino del Norte und der portugiesische Jakobsweg haben eines gemeinsam: Das Meer!
Wenn wir in einem normalen Strandurlaub sind, schwimmen wir, liegen am Strand, lauschen den Wellen. Auf dem Camino wurde das Meer eher zu etwas wie einem treuen Begleiter.
Schon Goethe sagte einst „Das freie Meer befreit den Geist.“ Die Meerluft lässt uns besser atmen und der markante Geruch nach Salzwasser und Algen inspiriert uns. Dieser Geruch ist übrigens ein Gas namens DMS (Dimethylsulfid), das von bestimmten Bakterien gebildet wird. Wenn Algen absterben, werden sie von den Bakterien genüsslich verspeist. Als Nebenprodukt entsteht das Gas, welches dann aus dem Wasser in die Atmosphäre strömt und so für den charakteristischen Meeresduft sorgt.
-Meeresrauschen- Nicht ohne Grund ist dies der meistgewählte Entspannungssound, vielleicht gleich gefolgt von „Sommerregen mit Vogelgezwitscher“. Das Rauschen der Wellen beruhigt und entspannt uns. Auf dem Caminho Português geht man längere Zeit auf traumhaft schönen Holzbohlenwegen entlang, das Meer stets auf der linken Seite. Der Camino del Norte ist naturtechnisch etwas wilder: hier geht man kilometerweit vorbei an steilen Felsklippen, auf Sandstränden oder speziellen Wegen. Der Ozean ist hier stets rechts von einem. Meist sichtbar ist es direkt neben einem, etwas entfernter oder sogar direkt spürbar. Besonders spannend sind auf diesem Weg auch die Brandungshöhlen in Arenillas: Durch die Einstürzlöcher kann das Wasser je nach Wetterlage bis zu 40m aufspritzen.
Der ständige Geruch nach Meer bzw. Dimethylsulfid ;-) wirkt sich auch auf den Appetit aus. Und das Angebot nach frischem Fisch und Meeresfrüchten ist groß. Auf dem portugiesischen Jakobsweg werden Fische oft direkt auf der Straße gebraten. Der köstliche Geruch nach gegrilltem Fisch zieht so durch die Straßen und hat so manchen Pilger zu einer längeren Mittagspause verführt.
Nach einem langen Fußmarsch ist es besonders schön seine brennenden Füße in das kalte Nass zu tauchen. Auch am Abend kann man hier wunderbar zur Ruhe kommen und den Sonnenuntergang genießen. Der Sand massiert sanft die Füße. Du regenerierst dich, kommst zur Ruhe und fragst dich: „Gibt es eigentlich mehr Sand am Strand, als Sterne am Himmel?“
Das Meer reizt all unsere Sinne auf eine ganz besondere Art und strahlt somit Entspannung, Weite, Regeneration und Freiheit aus. Für viele Menschen hat es dadurch eine heilende Wirkung.
Der lange Weg durch die Natur
Der Jakobsweg führt von Großstadt zu Städtchen, von Fischerdorf zu historischer Altstadt, bis Santiago de Compostela erreicht ist. Dazwischen liegen Wälder, Feldwege, Küstenstrecken, Asphaltstraßen, Sandstrände, Gebirgspfade, Wiesen und Holzbohlenwege. Durch diese Vielseitigkeit der Natur, sind auch die Sinneseindrücke sehr abwechslungsreich auf dem Weg.
Außerdem ist man stets der Wetterlage ausgesetzt. Da ich beide Male im März losging, hatte ich sowohl Kälte, Sturm und Regen bei dem ich das Stampfen im Matsch und dem Heulen des Windes lauschte, als auch pralle Mittagshitze mit Sonnenbrand und Sonnenstich. Am liebsten mochte ich eine angenehme Temperatur mit einem frischem Lüftchen (wenn es geht im Rücken ;-) ) und Sonne. Aber wie auch das echte Leben ist der Camino kein Wunschkonzert, aber nach Regen folgte (meistens) Sonnenschein. Der Tastsinn ist auch besonders in den Ruhepausen angesprochen. Hier legte oder setzte ich mich in der Natur manchmal einfach genau dorthin, wo ich gerade stand bzw. gerade nicht mehr stehen konnte. Das waren bevorzugt Bänke oder große Äste oder wenn es trocken war auch ein Schattenplätzchen im Gras unter einem Baum. Wenn es regnete war das ganze allerdings weniger angenehm. Einmal setzte ich mich auch genau vor einen Ameisenhaufen. Das merkte ich vor lauter Erschöpfung allerdings erst als die Ameisen an mir hochwuselten.
In den Pausen bietet sich ein Picknick im Freien an. Ich liebte es, einfach ein Baguette und Butter im Ort zu kaufen und mir dann einen schönen Platz zum genießen zu suchen. Neben dem gustatorischen Genuss, bedeutet Essen auf dem Camino vor Allem Energie. Energie um weitere Kilometer zu laufen und den Tag gut zu überstehen.
Die Sinnesreize sind auch von den jeweiligen Gebieten mit der dazugehörigen Landwirtschaft geprägt. Es begegnen einem Ziegen und Kühe, die mit ihren Glocken die Stille durchbrechen. Auf dem Norte betritt man teilweise sogar die Weide der imposanten Riesen; Das treibt den Puls doch etwas in die Höhe. Richtig erschrocken habe ich mich jedoch bei dem lautstarken Gebelle der vielen Hunde in den Dörfern. Du gehst nichtsahnend im Schatten der Gärten entlang, da taucht plötzlich direkt neben dir ein Ungetüm mit fletschenden Zähnen auf. –Bild von einem kleinen Hund- Nun ja, ok.. aber die kleinsten Hunde haben oft am lautesten gebellt ;-) Etwas empfindsamer verhalten sich die Katzen und Pferde auf dem Weg, die man teilweise auch streicheln kann.
Natürlich kann auch der Pilger selbst die Akustik auf dem Weg beeinflussen. Ein sehr einprägsames Geräusch ist das regelmäßige Klacken der Trekkingstöcke, falls man sie benutzt. Sie geben einen regelmäßigen Takt vor, durch den man Motivation zum Weitergehen schöpfen kann. Besonders bei unebenen Wegen oder bei großer Erschöpfung kann ich die Verwendung Wanderstöcke sehr empfehlen.
Die Verwendung von externer Akustik wie Musik oder Hörbücher ist unter Pilgern heiß diskutiert. Viele wollen sich auf dem Weg voll und ganz den Klängen der Natur und ihren eigenen Gedanken hingeben. Ich persönlich finde, Musik kann bestimmte Situationen sehr unterstützen und intensivieren. So wurde das Lied „go solo“ von Tom Rosenthal zu meinem persönlichen Camino Lied und auch die Lieder „Zeit“ und „großes Wasser“ von Schandmaul passten für mich perfekt zu dem gerade erlebten. Hörbücher finde ich sehr gut als Ablenkung, wenn man nicht mehr laufen kann oder abends in der Herberge. Besonders spannend fand ich das Hörbuch über Mythen, Sagen und Legenden auf dem Jakobsweg (ihr findet es in meiner Packliste).
Spaniens Flora ist geprägt von Pinien und anderen Kiefernarten, Eichen, Obst- und Eukalyptusbäumen. Weit verbreitet sind auch Farn-, Ginster und Heidearten. Der Camino ist wahnsinnig grün, gesäumt von vielen bunten Blumen-Highlights. Dies wirkt sich natürlich auch auf dem Geruchssinn aus. Am besten hat mir der Geruch nach Orangen und der nach Eukalyptus gefallen. Auch in einigen Herbergen wurden die kleinen Eukalyptusfrüchte und -zweige getrocknet, um den Geruch der ankommenden Pilger zu überdecken.
Menu del Peregrino – Ein Fest für die Geschmacksnerven
Für den Geschmackssinn stehen in den Herbergen und unterwegs die Pilgermenüs im Vordergrund, die natürlich von der spanischen Küche geprägt sind und viele kulinarische Köstlichkeiten enthalten. Für ca. 10 Euro bekommt man ein 3-Gänge-Menü, das man meist selbst zusammenstellen kann. Dazu wird immer Brot und wahlweise Wein oder Wasser bereit gestellt. Besonders der abendliche Wein gehört für viele Pilger als Abschluss eines anstrengenden Tages dazu und dann lässt es sich auch gleich besser schlafen ;-)
Viele Gebiete haben ihre eigenen Spezialitäten, wie beispielsweise der Tintenfisch in eigener Tinte in Castro Urdiales, die Pimentos in Padrón oder der Apfelwein Sidra aus der Provinz Asturien. An der Küste werden Fischgerichte und Meeresfrüchte mit frischen Kräutern serviert, z. B. in Form einer leckeren Paella. Viele spanische Gerichte haben ihren Ursprung in der einfachen Bauernküche. Ein Brot mit Manchego oder Chorizo zeigt, wie lecker das schmecken kann. Auch fleischfreie Gerichte wie Tortilla, ein spanisches Omelett aus Eiern mit Kartoffeln und Zwiebeln, stehen auf der Speisekarte. Als Nachtisch kann man z. B. Crema Catalana oder Churros genießen.
Herbergen – Zwischen Sinneskrise und Sinnkrise
Apropos Herberge. Vielleicht erinnern sich noch einige an meine Aussage von Film 1 –Filmszene- Dazu stehe ich auch. Für eine empfindliche Nase ist es manchmal vermutlich genauso schwierig, wie für solche mit einem leichten Schlaf. Der Schweißgeruch wird jedoch oft mit leckerem Essen, Kaminfeuer oder eben Eukalyptus überdeckt.
Auch der Tastsinn muss abends einiges durchmachen. Man könnte jetzt denken, dass es nach dem Tagesmarsch vorbei ist, aber abends kommen einige Schmerzen erst so richtig zum Vorschein. Meistens lag ich erstmal für eine Stunde zitternd und innerlich frierend im Bett, bevor ich mich zum Duschen und Essen aufraffen konnte. Danach pflegt man sich und leckt bzw. desinfiziert seine Wunden. Eine Massagerolle, Hirschtalg, Blasenpflaster und Tape gehörten zu meinen täglichen Utensilien. Einige private Herbergen bieten auch eine entspannende Badewanne an. In den weniger guten Herbergen fühlt man im Schlaf schon mal die Sprungfedern in den Pritschen oder noch schlimmer die Viecher wie z. B. Stechmücken und Bettwanzen. Zum Glück schütze mich mein Seidenschlafsack zumindest vor Letzterem.
Doch die oft sehr persönlichen Gespräche machen vieles wett. Ich denke, dadurch dass der Pilgerweg an sich etwas sehr persönliches ist, beginnt man automatisch an einem anderen Punkt als in Deutschland. Natürlich hat man auch gleich eine Gemeinsamkeit, die einen verbindet. Man redet über z. B. über den Startpunkt, die Schmerzen oder über die Gründe, warum man den Jakobsweg geht. Dies ist in vielen Fällen die Grundlage für sehr bewegende Geschichten. So erzählte mir eine Frau, die mit ihrer Enkelin die Strecke von San Miguel nach Santander ging, dass sie sehr krank sei und dass sie nun mit jedem Familienmitglied und Freund einen Teil des gesamten Weges gehen will, bevor sie sterben würde.
Ein Mann erzählte mir, dass er Zuhause materiell sehr reich sei, sich aber dennoch arm fühle. Er könne die kleinen Dinge im Leben nicht mehr richtig schätzen. Es ginge nur noch darum das größte Boot, den innovativsten Fernseher oder das neuste IPhone zu besitzen. Hier auf dem Camino wolle er das erste Mal bewusst auf Luxus verzichten.
Eine andere Frau erzählte, dass sie ihrem Dasein als Mutter und Hausfrau entfliehen wolle. Sie sagte ihrer Familie, sie MÜSSE jetzt sofort los, sonst würde sie einfach ausbrennen und nicht mehr existieren. Hier auf dem Jakobsweg habe sie in ihrer ersten Nacht alle Ängste und Sorgen in einer Episode aus qualvollen Albträumen erlebt. Am Morgen wachte sie tränenüberströmt auf und zum ersten Mal fühlte sie sich befreit.
Eine andere junge Frau war in ihrem Leben gerade immer abhängig von der Beurteilung anderer. Im Studium musste sie einige Ungerechtigkeiten und Drucksituationen durchleben. Der Camino war etwas, was allein sie in der Hand hatte. Sie war zum ersten Mal unabhängig und frei. Ihre Leistung hing nicht von anderen, sondern allein von ihr ab.
Diese und viele andere Gespräche haben mich sehr bewegt. Diese Begegnungen machen den Camino aus!
Zwischen erholsamer Stille und Jubel, Trubel, Heiterkeit
Auf dem Weg begeht man oft kleine Dörfer oder Städtchen, die zum Verweilen einladen. Sehr oft befindet sich dort auch eine Kirche. Hier bekommt man einen Stempel für den Pilgerausweis und im Kirchengarten ist es wunderbar schattig und kühl. Hier habe ich oft einfach mal ein halbes Stündchen geschlafen. Natürlich kann man auch den ein oder anderen Gottesdienst erleben.
Im krassen Gegensatz zu dem Weg durch die Natur stehen die lauten Großstädte wie Santander oder Gijón. Aber auch schöne Altstädte wie in Santilana del Mar oder Valença mit ihren engen Gassen und Glockengeläut liegen auf dem Weg. Viele starten von Bilbao oder Porto. So verlässt man nach und nach den Trubel, bis man irgendwann wieder in der Stadt voll von Tourismus und Menschenmassen endet: Santiago de Compostela. Hier werden die Sinnesreize regelrecht überladen. Hatte man sich gerade an die ruhigen Klänge der Natur gewöhnt und darauf sonst weniger auffällige Reize intensiver wahrzunehmen, folgt hier die pure Reizüberflutung. Natürlich sind alle glücklich ihr Ziel erreicht zu haben, aber viele sind auch mit dem Trubel überfordert und gehen noch weiter bis Finisterre, ans Ende der Welt.
Aber auch in Santiago de Compostela kann man einen schönen Abschluss finden, z. B beim Pilgergottesdienst, bei dem, wenn man Glück bzw. inzwischen Geld hat, ein großer Weihrauchkessel über die Köpfe der Pilger geschwungen. Der mystische Geruch nach Weihrauch ist bei den Pilgern, die dies erleben durften oft auf Ewig mit diesem Ereignis verbunden.